Jugendforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zur Gedankenwelt und Lebenseinstellung der heute 15- bis 30-jährigen

Prof. Dr. Klaus Hurrelman gilt vielen als Deutschlands bedeutendster Jugendforscher. Sein gerade erschienenes Buch "Die heimlichen Revolutionäre" beleuchtet die Gedankenwelt und Lebenseinstellung der heute 15- bis 30-Jährigen.

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann

Nach langjähriger Lehrtätigkeit an der Universität Bielefeld arbeitet er seit 2009 als Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Professor Dr. Hurrelmann leitete unter anderem die 14. und die 15. Shell-Jugendstudie.

 

In Ihrem neuesten Buch „Die heimlichen Revolutionäre“ beschreiben Sie die heutige junge Generation als „Ego-Taktiker“. Wie kommen Sie zu diesem Begriff?

Gemeinsam mit dem Journalisten Erik Albrecht habe ich alle Informationen über die heutige Jugend zusammengetragen und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA. Ausgewertet haben wir die Angaben verschiedener Studien – der Shell-Jugendstudien, der neuen McDonald´s-Ausbildungsstudie, der Metallrente-Studie zum Vorsorgeverhalten junger Leute und viele andere. In der Gesamtschau habe ich den Begriff des Ego-Taktikers gewählt – als Überschrift für eine Generation, die sich wegen gemachter Erfahrungen stark auf sich selbst besinnt.

 

Haben wir es also mit einer Generation von Egoisten zu tun?

Diese Interpretation wäre nicht richtig. Die jungen Leute gehen mit Blick auf sich selbst in die Gesellschaft hinein. Und sie prüfen auch beim Berufseinstieg die eine und die andere Möglichkeit  für sich. Es kann durchaus sein, dass sie nach Option A noch auf B, C oder D umsatteln. Diese Grundeinstellung der jungen Leute, die heute zwischen 15 und 30 Jahre alt sind, spiegeln alle Untersuchungen.

 

Die jungen Leute wissen möglicherweise auch, dass sie knapp sind ...

Das sickert vor allem bei den höher Qualifizierten – das sind inzwischen rund 60 Prozent eines Jahrgangs – langsam ins Bewusstsein. Und hier gibt es schon ganz schön kühne Vorstellungen. Die restlichen 40 Prozent teilen sich hälftig auf in jene, die einen bescheideneren Schulabschluss haben, und jene, die wir die „Abgehängten“ nennen. Hier sind die Ansprüche wesentlich bescheidener.

 

Immer intensiver werben Unternehmen um gut ausgebildete junge Leute. Wo sehen Sie hier Chancen für Handwerks- und baugewerbliche Betriebe?

Die Chancen bestehen aus meiner Sicht im gesamten Spektrum. Es wäre aber eine völlig falsche Strategie, wenn Handwerksbetriebe sich in dieser Konkurrenzsituation nur auf jene 20 Prozent konzentrieren würden, die sich zwischen der Elite und den Abgehängten bewegen. Ich glaube zudem, dass auch unter den 20 Prozent der Abgehängten Talente dabei sind, die in den Jahren der hohen Arbeitslosigkeit gar keine Chance hatten. Aber das Handwerk muss und sollte den Blick auch auf die Elite richten. Die Jahrgangsquoten mit Abitur erreichen in einigen städtischen Regionen schon fast 70 Prozent eines Jahrgangs. Niemand, der Nachwuchs sucht, kommt an diesem Reservoir vorbei.

 

Mit welchen Strategien kann das Handwerk junge Leute mit Abitur gewinnen?

Es kommt darauf an, die ego-taktische Grundhaltung gerade dieser besser Gebildeten zu treffen. Diese Haltung resultiert aus den zurückliegenden Krisenjahren am Arbeitsmarkt und der Zeit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die jungen Leute haben zwischen 2000 und heute ihre prägende Jugendzeit verbracht, und sie wussten bis vor kurzem nicht, ob sie überhaupt in den Beruf hineinkommen und irgendwann eine gesellschaftlich etablierte Position würden einnehmen können. Sie haben erlebt, dass es im Arbeits- und Wirtschaftsleben keine Gewissheit gibt. Deshalb leben sie in Alternativen. Sie haben gelernt: Klappt Option A nicht, dann nehme ich eben Option B oder C.

 

Wer unterstützt sie in solch einer schwierigen Lage?

Ein Ruhepol für eine große Mehrheit dieser jungen Leute ist das Elternhaus: Diese Jugendlichen haben die Erfahrung gemacht, dass die Eltern ihnen immer zur Seite stehen. Das unterscheidet sie von früheren Generationen, bei denen es wesentlich mehr Konfrontation mit den Eltern gab. Die Eltern sind heute wichtige Ratgeber in der Berufsfindungsphase. Eine wichtige Rolle für die Generation Y spielen auch die Sozialen Medien, also Facebook & Co. Damit verbunden sind Selbstdarstellung und vielleicht auch eine gewisse Selbstverliebtheit. Diese jungen Leute verfolgen Ziele vielleicht nicht mehr so verbissen wie vor 20 Jahren. Aber sie wollen im Beruf etwas Sinnvolles tun und Spuren hinterlassen.

 

Und wie kann das Handwerk sich hier im Wettbewerb um Nachwuchs positiv absetzen?

Wer eine Ausbildung im Handwerk beginnt, kann von Anfang an etwas Konkretes produzieren und gestalten. Das muss bei der Werbung in den Vordergrund gerückt werden. Vorausgesetzt, dass die Ausbildung gut ist, können junge Leute hier von Anfang an etwas sichtbar Sinnvolles tun. Natürlich konkurriert das Handwerk mit dem Studium: Das wirkt auf manche jungen Leute auch deshalb attraktiv, weil es unverbindlicher als der sofortige Eintritt ins Berufsleben erscheint: noch drei, vier Jahre Freiheit, etwas lernen, sich nicht festlegen müssen.

 

Was kann das Handwerk mit Blick auf die Konkurrenz zum Studium noch tun?

Es muss dieser Generation, die in Optionen denkt, noch klarer als bisher deutlich machen, dass die Duale Ausbildung keine Sackgasse ist. Betriebe und auch Verbände sind aufgerufen, weiterführende Karrieren als Techniker oder Ingenieure zu kommunizieren. Junge Leute brauchen diese Optionen für die Zukunft, damit sie überhaupt ins Handwerk einsteigen. Mit Blick auf die Mentalitäten dieser jungen Generation muss das gesamte Duale Ausbildungssystem modernisiert werden – hin zu einer modularen, aufeinander aufbauenden Struktur in Kooperation mit dualen Hochschulen und Berufskollegs. Unternehmen können auch Co-Finanzierungen von Studiengängen anbieten: Wichtig sind dabei klare Zielvereinbarungen mit den jungen Leuten, was in den Semestern zu schaffen ist, damit die Finanzierung fortgesetzt wird.

 

Da könnte mancher Betrieb sagen, dass er doch keine Leute ausbildet, damit sie ihm gleich wieder zur Hochschule weglaufen...

Das ist die falsche Sicht! Wir brauchen die offenen Perspektiven, damit die Duale Ausbildung in der Konkurrenz zum Studium weiter attraktiv bleibt. Auch die Verbände müssen hier noch aktiver werden. Die Optionen, die aus einer Dualen Ausbildung entstehen – bis hin zur Möglichkeit, auch andere Berufe darauf aufzubauen –, müssen aktiv kommuniziert werden. Am Bau zum Beispiel kommen Architektur und Gestaltung sowie Umwelttechnik und IT mit hinein. Das bietet doch viele Entwicklungsperspektiven. All das muss auch mit Blick auf eine zukünftig noch besser zu erschließende Zielgruppe geschehen: Mädchen und junge Frauen orientieren sich neu, sind sehr vielseitig interessiert. Sie sind kompromissbereiter, haben tendenziell bessere Bildungsabschlüsse und sind leichter zu führen als junge Männer. Sie sind in den nächsten Jahren eine zunehmend interessantere Zielgruppe auch für das Baugewerbe. Bei entsprechender Akzeptanz werden Mädchen auch in Baubetrieben zu sehr interessanten Mitarbeiterinnen werden.

 

Handwerk ist oft Teamarbeit. Welcher Kitt hält eine Mannschaft von „Ego-Taktikern“ zusammen?

Diese Generation ist es nicht mehr gewohnt, sich Autoritäten bedingungslos unterzuordnen. Wer sie für die Mitarbeit gewinnen und im Unternehmen halten will, der muss Vorgaben begründen – und zwar so, dass die jungen Leute das einsehen. Die Mehrheit will etwas lernen. Sie sind an kooperatives Arbeiten mit ihren Lehrern gewohnt.

 

Fehlt es diesen jungen Leuten an Zuverlässigkeit?

Nein! Das wird oft da hinein interpretiert. Diese jungen Leute wollen in einem Unternehmen durchaus Wurzeln schlagen. Doch sie wollen zunächst einmal ein gutes Betriebsklima. Sie wollen sich aufgehoben fühlen. Ein demütigender autoritärer Führungsstil mit scharfen Anweisungen funktioniert nicht mehr. Das kann dazu führen, dass diese Ego-Taktiker Option B oder C ziehen und wechseln, wenn sie von ihrer Vorbildung her so aufgestellt sind, dass sie wählen können.

 

Aber muss es im Unternehmen nicht einen geben, der das Sagen hat?

Diese Generation akzeptiert durchaus Persönlichkeiten mit überlegener Erfahrung. Entscheidend für sie ist die Transparenz: Vorgesetzte müssen Entscheidungen und Vorgaben begründen. Dann bleiben diese selbstbezogenen Ego-Taktiker auch sehr gerne in einem Team. Die Glaubwürdigkeit des Ausbilders ist alles entscheidend. Wenn er Druck macht, muss er vermitteln, dass auch er selbst im Terminstress steckt, weil zum Beispiel ein großer Auftrag ansteht, der für das Unternehmen existenziell ist. Authentischen Persönlichkeiten, die ihr Verhalten und ihre Vorgaben nachvollziehbar begründen, fressen diese jungen Leute aus der Hand. Solche Ausbilder können ein Team von Ego-Taktikern zusammenschweißen. Im Handwerk gibt es diese persönliche Komponente in der Zusammenarbeit. Darin liegt eine große Chance.

 

Unternehmen wollen in Zeiten wachsenden Wettbewerbs Mitarbeiter binden ...

Vorsicht mit dem Wort „Binden“! Die richtige Ansprache für diese Generation ist aufgaben- und projektbezogen zu formulieren. Zum Beispiel so: Ich habe hier eine Aufgabe, gemeinsam sollten wir einen Weg suchen, wie Du Dich einbringen kannst. Ein Fehler wäre es aber, die jungen Leute an den Arbeitsplatz fesseln zu wollen. Ausbilder und Vorgesetzte sollten ihnen vielmehr das Gefühl vermitteln, dass sie wichtige Mitarbeiter sind und an bedeutenden Aufgabenlösungen mitwirken. Die Jugendlichen müssen das Gefühl haben, dass sie freiwillig im Unternehmen sind und theoretisch jederzeit gehen könnten.

 

Handwerksbetriebe sind vielfach kleine und mittelständische Unternehmen. Sie konkurrieren mit Konzernen als Arbeitgebern. Nach aktuellen Studien ist berufliche Sicherheit für die junge Generation ein wichtiges Argument. Wie können Handwerksbetriebe hier gegenüber Großunternehmen punkten?

Junge Leute sind sozial traumatisiert durch viele Veränderungen, die sie erlebt haben und wünschen sich Sicherheit. Das stimmt. Aber es ist eher eine abstrakte Wunschvorstellung, unkündbarer Beamter zu werden. Wir erleben bei den besser Gebildeten, dass viele ihre Optionen genießen und ausschöpfen, statt sich vorschnell festzulegen. Aber es gibt auch viele, die sich gerne irgendwo fest niederlassen möchten. Darin liegt eine Chance für das ortsnahe Handwerk. Ich hatte bereits erwähnt, dass diese junge Generation eine besondere Harmonie mit ihren Eltern lebt. Das kann sie fortsetzen, wenn sie in der Heimat bleibt. In der Nachwuchswerbung sollten sich die Betriebe und Verbände sehr viel stärker auf die Eltern konzentrieren – zum Beispiel auch über Elternabende. Denn Mütter und Väter sind die mit Abstand wichtigsten Berater in der Berufsfindung. 

 

Mit Bezug auf die 40 Prozent, die im Bildungssystem weniger gut abschneiden, spricht BVN-Präsident Rainer Lorenz, selbst Ausbildungsunternehmer, von einer Niveauverschlechterung bei Schulabgängern. Er kritisiert auch sinkende Leistungsbereitschaft und fordert deshalb den Einsatz von Sozialarbeitern an Schulen. Hat er Recht?

Sein Befund ist bezogen auf die schwächere Gruppe der Schulabgänger nachvollziehbar. Allerdings verstärkt sich dieser Eindruck dadurch, dass das Baugewerbe wie andere Branchen auch nicht mehr im Bewerberüberfluss lebt und sich die Besseren aussuchen kann. Die Unternehmen tauchen auf der Suche nach Arbeitskräften nun auch in die bildungsschwächsten Gruppen ein. Hier finden sich die beschriebenen Probleme. Es gibt widersprüchliche Forschungsergebnisse darüber, ob die Defizite bei den Schlüsselqualifikationen bei allen Jugendlichen zu- oder abgenommen haben. Ich glaube, dass zwei Gründe für den Eindruck von Unternehmern wie Rainer Lorenz verantwortlich sind: Zum einen ist die Bewerberzahl, unter der sie wählen können, wesentlich kleiner als früher. Zum anderen steigen allgemein aber auch die Anforderungen – zum Beispiel durch die Mathematisierung auch in den Handwerksberufen und die wachsende theoretische Durchdringung aller Berufsfelder. Die schwächsten 20 Prozent eines Jahrgangs können hier nicht mehr mithalten. Und natürlich sind bei bestimmten Schülergruppen auch soziale Gründe für mangelnde Leistungsbereitschaft und Leistungen verantwortlich. Es gibt hier verfestigte Sozialhilfe-Karrieren in den Familien. Sozialarbeiter an den Schulen sind deshalb eine Option, die ich befürworte. Es ist aber auch zu fragen, ob hier nicht auch Ausbildungsunternehmen aktiv Verantwortung übernehmen können.

 

Wie soll das gehen?

Sie könnten sich eine kleine Auswahl dieser schwächeren Schüler einladen und nach sorgfältigen Gesprächen einen oder zwei von ihnen aussuchen. Es mag dann sein, dass einer der beiden nach einiger Zeit ausfällt. Aber in den, der bleibt, investiert das Unternehmen. Diesem Azubi sollte ein qualifizierter Geselle mit pädagogischem Händchen zur Seite gestellt werden. Ich weiß, dass mit solchen Modellen gute Erfahrungen gemacht worden sind. Duale Ausbildung kann den Menschen formen. Wenn das gelingt, hat das Unternehmen einen dankbaren Mitarbeiter, manchmal sogar ein Talent gewonnen, das mit großer Wahrscheinlichkeit dauerhaft bleibt.

 

Hinweis auf Buch im Kasten: "Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim: Beltz Verlag. 19,89 Euro."

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