Unsere Mitarbeiter werden älter. Was tun?

Der frühere langjährige nds. Wissenschaftsminister Lutz Stratmann ist seit September 2014 Geschäftsführer der Demografie-Agentur Niedersachsen. Diese Agentur will Betriebe mit individueller Beratung für den demografischen Wandel fitmachen. Dies geht, wie Stratmann im Interview deutlich machte, über die Gewinnung von Fachkräften hinaus.

Lutz Stratmann

Herr Stratmann, Bau- und Handwerksbetriebe sind meist kleinere und mittelständische Unternehmen (KMU). Inwieweit ist das Thema „Demografie“ hier bereits angekommen?

Es steht vor allem bei kleineren Handwerksunternehmen nicht oben auf der Agenda. Die Verantwortlichen haben weder die personellen noch finanziellen Ressourcen und sagen sich: „Ich muss erst einmal sehen, dass meine Auftragsbücher voll sind.“

Warum ist es so wichtig, dass sich das ändert?

Eine strategisch ausgerichtete Personalplanung ist auch für KMU sehr wichtig. Und sie bietet erhebliche geldwerte Vorteile.

Zum Beispiel?

Die Altersstruktur in einem Unternehmen spielt zunehmend eine wichtige Rolle bei der Bewertung von Unternehmen zum Beispiel durch Kreditgeber oder potentielle Investoren. Das kann einige hunderttausend Euro ausmachen, wenn man sein Unternehmen einmal verkaufen will. Insofern kann eine strategisch ausgerichtete Personalplanung bares Geld wert sein. Größere Unternehmen haben Fachleute dafür, Inhaber kleinerer Handwerksbetriebe sind so mit ihrem Tagesgeschäft beschäftigt, dass sie den Kopf dafür nicht frei haben. Ein weiterer Punkt: Im Tagesgeschäft verdrängen viele, dass irgendwann auch der Polier, der alle Abläufe aus dem Unternehmen kennt, in den Ruhestand geht. Dann kann es sein, dass man erst einmal ratlos dasteht, weil dieser Mann wichtige operative Kontakte in die Rente mitnimmt.

Was tun?

Die Demografie-Agentur in Niedersachsen anrufen und um Beratung bitten. Gerade im Baugewerbe haben wir viele Betriebe mit bis zu zehn Mitarbeitern. Sie erhalten im Rahmen des Projektes „Unternehmenswert Mensch“ bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen 80 Prozent der Beratungskosten von bis zu 1.000 Euro am Tag für eine Dauer bis zu zehn Beratungstagen erstattet. Betriebe zwischen zehn und 249 Mitarbeitern können sich je nach Umsatzgröße 50 Prozent der Beratungskosten bezuschussen lassen.

Gilt das für alle?

Ja, mit sehr wenigen Ausnahmen gilt dies für alle Unternehmen. Zunächst prüfen Erstberater der Demografie-Agentur in ganz Niedersachsen die Fördervoraussetzungen. Wir kooperieren in Osnabrück und Lüneburg mit der Handwerkskammer, in Oldenburg mit dem Arbeitgeberverband, in Braunschweig mit der Allianz der Regionen, in Göttingen mit dem Bildungswerk Arbeit und Leben sowie mit der Bundesagentur für Arbeit. Unsere Erstberater schauen sich die Betriebe an und prüfen auch die Beratungskonzepte. Wichtig: Das Beratungsanliegen muss etwas mit den für uns relevanten Themen zu tun haben.

Um welche Themen geht es?

In vielen kleineren Unternehmen wird Personalpolitik von einem aufs andere Jahr betrieben. Man weiß: Mitarbeiter X geht zum Jahresende und ist sich bewusst, dass man ihn ersetzen muss. Doch die gesamte Wucht des demografischen Wandels wird so nicht sichtbar. In den kommenden zehn Jahren werden viele Unternehmen zwischen 25 und 40 Prozent ihrer Belegschaft ersetzen müssen. Wie groß der Ersatzbedarf ist, kann über eine Altersstruktur-Analyse festgestellt werden.

 

Beispielhafte Altersstrukturanalyse für ein Unternehmen mit 350 Mitarbeitern. Die hellen Balken zeigen die Verteilung einzelner Altersgruppen in 10 Jahren und die Veränderung gegenüber der heutigen Lage (dunkle Balken). Solche Analysen dienen der strategischen Personalplanung.

Was für Optionen hat ein Unternehmen mit einer ungünstigen Altersstruktur?

Wenn wir feststellen, dass ein Unternehmen in den kommenden Jahren viele altersbedingte Abgänge hat, setzen wir zu allererst beim Wissensmanagement an. Denn mit dem Gang in den Ruhestand verlässt viel Know-how das Unternehmen. Oft sind Unternehmen darauf nicht systematisch vorbereitet. Als erste Maßnahme wird ein Wissensmanagement-System etabliert, das dafür sorgt, dass die Älteren ihr Wissen an die Jüngeren weitergeben. Wir engagieren dafür Prozessberater und sehen uns selbst als Vermittler.

Und wie sieht ein solches Wissensmanagement konkret aus?

Ich hatte dies am Beispiel des älteren Poliers bereits angesprochen: Mit älteren Mitarbeitern verabschieden sich auch viel Erfahrungswissen und wichtige Kontakte für das Unternehmen in den Ruhestand. Deshalb muss rechtzeitig systematisch dafür gesorgt werden, dass Know-how an jüngere Mitarbeiter weitergegeben wird. Wir schicken Berater in die Betriebe, die insoweit Erfahrungen und Spezialwissen angehäuft haben und die notwendigen Maßnahmen gemeinsam  mit den Beteiligten umsetzen.

Ein wichtiges Arbeitsfeld ist auch die Führung. Mit Einführung von Building Information Modeling, der Digitalisierung am Bau, werden junge Spezialisten Führungsrollen im Baugewerbe übernehmen. Will sich jeder gestandene Maurer von einem 25-Jährigen führen lassen? Wir brauchen hier sicher einen Mentalitätswechsel.

Altersstruktur-Analyse oder nicht – es bleibt das Problem, dass wir künftig mit im Schnitt älteren Belegschaften arbeiten müssen. Können wir dabei auf Dauer produktiv bleiben?

Natürlich wird am Bau und im Handwerk schwer gearbeitet. Und selbstverständlich kann das auch gesundheitliche Probleme verursachen. Allerdings werden auch hier zunehmend Maschinen eingesetzt, welche die manuelle Arbeit von einst erleichtern. Aber wir haben in Deutschland auch ein mentales Problem. In Schweden würde niemand auf den Gedanken kommen, vor einem Lebensalter von 65 Jahren die eigene Arbeitsfähigkeit für beeinträchtigt zu halten. In Deutschland beginnen diese Zweifel bereits mit 57 oder 58 Jahren. Zwischen diesen beiden Ländern klafft eine Differenz von acht Jahren! Das mag mit den langjährigen Vorruhestandsprogrammen zusammenhängen, die wir hier in Deutschland hatten. Wir brauchen einen Mentalitätswandel bei vielen Mitarbeitern, ebenso aber auch in den Betrieben. Gute Führung in Unternehmen besteht heute darin, älteren Mitarbeitern zu vermitteln, dass das Unternehmen auch in Zukunft mit ihnen rechnet!

Kann Ihre Beratung diesen Mentalitätswechsel auslösen?

Wir werden es sicher nicht schaffen, einen 60-Jährigen, der seine Tage bis 63 zählt, zum glühenden Fan einer längeren Lebensarbeitszeit werden zu lassen. Zurzeit liegt der Durchschnitt bei 62,4 Jahren. Wie können wir es schaffen, ihn auf 64 oder 65 Jahre anzuheben und so Erfahrungswissen im Unternehmen zu halten? Dies kann zum Beispiel über Arbeitszeitmodelle erreicht werden. Wir wenden uns nach Analyse der Lage mit entsprechenden Empfehlungen an die Unternehmen. Altersgemischte Teams sind auch für Betriebe ein Gewinn. Denn hier ergänzen sich eine möglicherweise höhere physische Belastbarkeit und die frischeren Kenntnisse Jüngerer mit der Erfahrung und Stressresistenz Älterer.

Alle diese Maßnahmen federn den demografischen Wandel nur ab, machen ihn aber nicht ungeschehen. Wie stehen wir demografisch betrachtet in Niedersachsen da?

Sorgen machen mir vor allem die ländlichen Regionen in Südniedersachsen. Quer durch die Mitte Deutschlands führt ein Gürtel mit besonderer demografischer Problematik von Ostdeutschland über Südniedersachsen bis nach Nordrhein-Westfalen. Für diese strukturschwachen Regionen sind besondere Anstrengungen gefragt, um die bereits drehenden Abwärtsspiralen zu verlangsamen und zu stoppen.

Und wo punktet Niedersachsen aus demografischer Sicht?

Vor allem im Nordwesten herrschen baden-württembergische, ja bayerische Verhältnisse. Wir haben hier eine stark durch Familienbetriebe geprägte diversifizierte und eigenkapitalstarke Branchenstruktur. Die Menschen sind dort sehr bodenständig. Im Harz-Vorland habe ich hingegen Betriebe, die in den kommenden zehn Jahren 35 bis 50 Prozent ihrer Mitarbeiter in einem Umfeld verlieren, in dem die Bevölkerung in den kommenden 20 Jahren um 30 Prozent abnimmt. Das beeinflusst Investitionsentscheidungen negativ und verschlechtert die Lage weiter. Daher habe ich einige Sympathie für den Vorstoß zum Beispiel des Bürgermeisters von Goslar, der sich dafür einsetzt, mehr Flüchtlinge in seine Stadt zu bekommen. Die Flüchtlinge müssen dorthin, wo wir sie künftig brauchen! Hier liegen auch Personalressourcen für Baugewerbe und Handwerk.

Der Bau wird zunehmend digitaler. Die Komplexität der Bauausführung wächst durch energetische Anforderungen und weitere Auflagen. Sind vielfach gering qualifizierte Flüchtlinge die Lösung für Engpässe?

Diese Frage kann niemand heute seriös beantworten. Wir wissen, dass ungefähr die Hälfte der Neuankömmlinge keine adäquate Ausbildung hat. Ein weiteres Problem, das Handwerk und teilweise sicher auch das Baugewerbe mit Blick auf den künftigen Nachwuchs besorgen muss: Unsere duale Ausbildung droht unter die Räder zu kommen. Immer mehr junge Leute zieht es an Hochschulen und Universitäten. Mittlerweile gibt es rund 1.400 ausdifferenzierte Bachelorstudiengänge, die zu einer ernsten Schwächung des dualen Ausbildungssystems führen können.

Was kann getan werden, damit sich das bessert?

Ein wichtiger Ansatzpunkt liegt bei den Eltern. Ihnen muss klargemacht werden, dass ihr Junge als Maurergeselle immer noch akademische Optionen offen hat. Die Bildungsangebote sind mittlerweile so durchlässig, das im Prinzip jeder mit Gesellenbrief später studieren kann. Nur hat er damit schon einmal einen Beruf in der Tasche. Jeder Maurergeselle kann Bauingenieur werden. Die praktischen Berufserfahrungen sind dabei nützlich.

Und wie führt man junge Erwachsene unter den Flüchtlingen an das duale System heran?

Nach dreieinhalb Monaten darf jeder zumindest ein Praktikum absolvieren – und auch eine Ausbildung, wenn Arbeitsamt und Ausländerbehörde zustimmen. Doch welcher Betrieb bildet schon aus, wenn er damit rechnen muss, dass sein angehender Mitarbeiter wieder ausgewiesen wird. In diesem Fall muss sichergestellt sein, dass ein erfolgreich ausgebildeter und integrierter Flüchtling auch in Deutschland bleiben kann und zwar unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens. Wir brauchen in solchen Fällen einen Spurenwechsel weg vom Asylrecht nach Artikel 16a Grundgesetz oder der Genfer Flüchtlingskonvention hin zu einem klassischen Einwanderer, dessen Qualifikationen bei uns nachgefragt sind.

Unsere Erfahrungen mit Spaniern: Viele sind doch wieder in die Heimat zurückgekehrt...

Wenn ein Bauhandwerker zum Beispiel nach Syrien zurückkehrt, um mit dem in Deutschland gewonnen Wissen sein Land wieder aufzubauen, dann können wir uns keinen besseren Botschafter für unser Land wünschen! Die Wirtschaft wird in diesem Fall ihren Teil der gesellschaftlichen Verantwortung tragen und wahrscheinlich sogar profitieren.

Hunderttausende Flüchtlinge werden bezahlbare Wohnungen brauchen.

Deshalb brauchen wir im Baurecht mehr Flexibilität. Wenn sie heute zum Beispiel eine Kaserne für Flüchtlinge umbauen, stellen Sie fest, dass es für die staatliche Bauverwaltung grundsätzlich kein Baurecht gab. Nun aber werden sie mit hohen Behördenauflagen konfrontiert. Die Behörde steht auf dem Standpunkt, dass das früher militärisch genutzt Gebäude gar keine Genehmigung habe und fragt nun: Wie sieht es mit der Statik, mit Schallschutz aus, wie sieht es mit Wärmedämmung aus? Sehr erfreulich ist, dass viele in den Behörden unter dem Druck der Ereignisse flexibler agieren, obwohl sie sich rechtlich auf dünnem Eis bewegen. Wenn das so ist, halte ich das vor allem auch im Bausektor für eine große Chance. Die aktuelle Krise bringt auch neue Chancen für den Bausektor. Der Soziale Wohnungsbau muss und wird eine Renaissance erleben.

Registrierte Mitglieder erhalten Zugriff auf detaillierte Informationen und Dokumente.

Eingeloggt bleiben

Als registriertes Mitglied des BVN stehen Ihnen weitere Informationen und Downloads zur Verfügung.